„Kingdom Come: Deliverance“ versucht, ein „realistisches“ Mittelalter im Böhmen des 15. Jahrhunderts zu erzählen. Das Ergebnis ist vor allem eins: Absurd.
Seit ein paar Tagen hat meine Neugier doch gesiegt und ich spiele „Kingdom Come: Deliverance“. Ein Spiel, dem ich eigentlich mehr als nur skeptisch gegenüber stand und stehe, weil es relativ aggressiv mit einem Werbeslogan von Authentizität und einem „realistischen“ Mittelalter beworben wurde, während gleichzeitig sein Chefentwickler politisch zumindest nach rechts geneigt ist. Das ist eine Konstellation, bei der sämtliche Alarmglocken schrillen sollten, haben doch bestimmte Imaginationen des mittelalterlichen Europas eine lange Tradition in rechter Propaganda. Und auch das Mittelalterbild von „Kingdom Come: Deliverance“ klang gefährlich nach mindestens problematischen Ideen eines rein weißen Europas, in dem Männer noch Männer und Frauen noch brav waren und außer Kinder zu bekommen und zu beten nicht viel getan haben.
Willkommen auf einem interaktiven Mittelaltermarkt!
Und tatsächlich: „Kingdom Come: Deliverance“ hat viele meiner Erwartungen bestätigt. Es transportiert ein sexistisches, nationalistisch verklärtes und obendrein auch noch heillos naives Bild des 15. Jahrhunderts, während die Handlung nebenher tatsächlich fast aus Versehen durchaus interessante Themen streift, aber dabei so sehr damit beschäftigt ist, „realistisch“ entsprechend der eigenen Realismus-Idee zu sein, dass diese Themen vollkommen untergehen. Auf der einen Seite sind nahezu sämtliche Spielmechaniken unnötig kompliziert, wohl um die Herausforderung des realen Pendants zu simulieren, auf der anderen Seite kann Heinrich im Badehaus gegen Geld Sex mit einer Prostituierten haben, woraufhin ein paar Stunden vergehen und das Gestöhne einer Frau ertönt und Heinrich augenblicklich den Bonus „Alpha Male“ auf sein Charisma bekommt. Auf der einen Seite will mich das Spiel „ins mittelalterliche Europa entführen“ und suggeriert, dabei eine Art „wahres“ Mittelalter abzubilden, auf der anderen Seite serviert es mir seinen modern begründeten und schon absurd offensichtlichen Sexismus auf dem Silbertablett.
Frauen? Haben, wenn sie denn mal nennenswert in der Handlung vorkommen, alle denselben Körper, ähnliche Stimmen, ähnliche Haarfarben, Gesichtszüge, Frisuren und Charaktereigenschaften. Wo man z.B. bei „The Witcher 3“ noch streiten konnte, ob oder wie sehr bestimmte Inhalte wirklich sexistisch oder nur dem Setting treu waren, sind diese Dinge in „Kingdom Come“ nicht einmal mehr wirklich kaschiert, sondern schlicht absurd offensichtlich frauenfeindlich. Und wie so oft hat diese Frauenfeindlichkeit in ihrer Inszenierung sehr viel mehr mit der Gegenwart als der Vergangenheit zu tun.
Das ist auf der einen Seite natürlich nach wie vor brandgefährlich, weil es sicher mehr als genug Spielende gibt, die diese als Fakt dargestellte Fantasie glauben werden, weil sie schlicht nah an populären Mythen über „das Mittelalter“ im Allgemeinen ist, auf der anderen Seite kommt mir die dahinter stehende, unglaublich naive Absurdität des Spiels schon wieder wie Realsatire vor. „Kingdom Come: Deliverance“ ist schlicht ein Paradebeispiel dafür, dass die Idee genauso wie der Versuch, sowohl Geschichte im Sinne von historischen Ereignissen als auch Geschichten im Sinne von Narration könnten absolut neutral oder unpolitisch sein, nichts anderes als eskapistisches Wunschdenken sind. Von einer Art Nationalismus im 15. Jahrhundert über ein lächerlich vereinfachtes Frauenbild bis hin zum Erzählmuster der in eine weiße, friedliche Idylle von außen einfallenden „Barbaren“ in Form der Kumanen – „Kingdom Come: Deliverance“ ist randvoll mit politischen Ideen und Botschaften, bei denen ich mir auch nicht einmal sicher bin, ob sie tatsächlich immer bewusst gesetzt oder nur einem naiven Geschichtsverständnis der Entwickler geschuldet sind.
Der naive Traum eines „modern, interactive museum“
Joanna Nowak, Kunsthistorikerin und laut den Credits des Spiels u.a. Lead Researcher, d.h. offenbar die wichtigste historische Beraterin, für „Kingdom Come“, betonte so zwar auf der einen Seite in einem Interview, dass das Spiel natürlich nicht hundertprozentig historisch akkurat sein kann, meinte aber gleichzeitig, ein Spiel wie „Kingdom Come“ sei wie ein modernes, interaktives Museum. Wenn die historische Beraterin eines Spiels, das mit einem besonderen Realismus wirbt, so eine Aussage tätigt, dann muss das Interview wirklich ungünstig gekürzt worden sein oder das Geschichtsverständnis bei Warhorse Studios grundsätzlich ein Ungleichgewicht aufweisen. Das, was wir als Geschichte – oder besser: Geschichtsschreibung – ansehen ist etwas, in dem es keine absolute Neutralität gibt. Das, was dem am nächsten kommt, ist der Versuch, nach bestem Wissen und Gewissen Quellen zu interpretieren und dabei auch die eigene Perspektive genauso wie die derer, auf deren Arbeit man aufbaut, kritisch zu hinterfragen.
Dass Geschichte dementsprechend zu einem guten Teil trotz allem ein Konstrukt ist, gehört zu den Grundlagen jeder Beschäftigung damit. Selbst ein wissenschaftlich fundiertes und nicht in erster Linie auf Narration und Spaß ausgelegtes, echtes interaktives Museum spiegelt immer seine Entstehungszeit, obwohl es vielleicht mit noch so großer Sorgfalt und einer noch so guten Methode erstellt wurde. Ein Spiel wie „Kingdom Come“, da hat Nowak Recht, kann also eine absolut akkurate Darstellung des 15. Jahrhunderts in Böhmen nicht leisten, aber genauso wenig kann es eingebettet in seine Narration die Arbeit eines interaktiven Museums leisten. Wenn man das allerdings bei Warhorse wirklich geglaubt hat und das nicht nur eine hohle Werbephrase war, dann ist nicht nur „Kingdom Come: Deliverance“ als Ergebnis, sondern auch das Geschichtsverständnis seiner Macher vollkommen naiv.
„I truly believe that people will be much more interested in not just Czech history, but history in general, and want to dig into it more after they play. […] Because they will feel it. This is something different from what they were told [in school]. It’s like a modern, interactive museum.“ – „Kingdom Come: Deliverance is an RPG that trades fantasy for historical accuracy“ von Andrew Webster, 2. Februar 2018, The Verge
„Kingdom Come: Deliverance“ ist alles, was es nicht sein wollte
Das ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, wie das Spiel schon im Vorfeld beworben wurde und was für Wellen die Kontroverse darum wenigstens hierzulande geschlagen hat, aber trotzdem nicht weniger absurd. „Kingdom Come: Deliverance“ soll offenbar an allen Stellen einen verkopften Realismus vermitteln, der auf der einen Seite unnötig kompliziert und auf der anderen unsagbar naiv ein Mittelalterbild wie aus einem Klischee-Nerdkeller transportiert. Kurz: Es scheitert ständig an seinem eigenen Realismus. Und am Ende ist dieses überdrehte Mittelalterbild als Imagination auch schon das Interessanteste daran, weil darin eben doch so viele Ideen von edlem Rittertum, braven Burgfräulein und gesichtslosen Schurken stecken. Am Ende bleibt vor allem eine gewisse Ironie: Denn obwohl man sich offenbar sehr um das Gegenteil bemüht hat, ist „Kingdom Come: Deliverance“ auf seine Art ein Klischee-Mittelalter. Genau das, was es ja angeblich nicht sein sollte.
Dieser Artikel ist im September 2018 und damit vor der Veröffentlichung des DLC „A Woman’s Lot“, das sich gezielt mit den Frauen des Spiels auseinandersetzt erschienen. Inzwischen habe ich über dieses DLC auch einen eigenen Post veröffentlicht.